Doppelmoral

Heute brauche ich meine Glaskugel nicht, um zu wissen, dass ich sehr zwiespältige Reaktionen auslösen werde. Es ist halt auch ein heikles Thema. Es geht um die „gute Sache“ und den „bösen Konzern“. Soweit, so klar. 

Wenn sich Millionen Menschen auf die Straße stellen und eine Choreografie eintrainieren, um zu einem Song zu performen, gibt es sicher Niemanden, der da etwas Negatives finden kann, bzw. der zugibt, es albern zu finden. Würde er dies tun, wäre ihm ein Shitstorm sicher.   

Auf der anderen Seite gibt es sicherlich auch Niemanden, der ernsthaft bezweifeln würde, dass ein Musikkonzern oder ein Künstler Anrecht auf den Lohn seiner Arbeit hat. Oder?

Nicht in der jetzigen Zeit, in der man allerorten den Slogan liest „Ohne Kunst wird es still“. Das ist richtig. Das ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Künstler ihre Miete nicht mit Klicks bezahlen können, und der Bäcker etwas mehr als ein „Gefällt mir“ für sein Brot möchte.

Nun aber haben wir folgende Situation. Der große Musikkonzern und der Künstler (ja genau der, der komponiert und getextet hat) sind wenig erfreut, dass ihre Musik überall frei genutzt wird. 

Das kann man schwofelig finden, weil ja „schließlich kein Schaden entsteht“. Man kann es nicht einsehen, weil „die Musik ja erst durch diese Aktion bekannt wurde“. Und außerdem kann man der Meinung sein, dass der Künstler den Song für den guten Zweck freigeben kann. 

Ja, der Meinung kann man sein. Das ist vollkommen legitim. Möglicherweise wird der Künstler (oder der Musikkonzern) dies auch in Erwägung ziehen. Das Problem nur, welches sich stellt, ist die Tatsache, dass diese Personen – und zwar nur diese Personen – dies zu bestimmen haben.

Ich kann niemanden seiner Rechte berauben, nur weil ich der Meinung bin, der Künstler hat genug, und es tut ihm nicht weh.

Wo will man denn anfangen? Wo soll das enden? 

Ein „guter Zweck“ ist schnell konstruiert. Dann muss halt Künstler XY einfach mal auf Einnahmen verzichten. Schließlich ist es für einen guten Zweck. Wie bereits mehrfach erwähnt. 

Für den guten Zweck kann der Veranstalter auch eigentlich auf die Miete für seine Konzerthalle verzichten. Wir bauen unsere Stände auf, und sind aktiv. Der soll sich nicht so haben. Es entsteht ja kein Schaden. Würden wir uns das erlauben? Würde der Veranstalter das zulassen? Würden wir auf seinen Protest genauso reagieren, wie es derzeit überall nur so vor Empörung brodelt, weil jemand nicht auf Einnahmen verzichten will, obwohl es für den guten Zweck ist, und auch, weil man ihn nicht einmal vorher gefragt hat.  

„Ohne Kunst wird es still“.

Da braucht man nicht diskutieren. Das ist so, und das muss unter allen Umständen verhindert werden. Ich glaube, da sind sich die meisten Menschen einig.

Der Spruch lautet aber nicht „Ohne Kunst, die von Künstlern stammt, die unser Mitleid haben, wird es still.“

Nein – hier geht es um Kunst, um Kultur. Es geht um Komponisten und Komponistinnen, um Texter und Texterinnen, Sänger und Sängerinnen. Es geht um alle, die sich für das „Grundnahrungsmittel Kultur“ stark machen. 

Und diese Menschen, diese Schaffenden müssen nicht zwangsläufig aus unserem Land kommen, find ich.

 

20.02.2021