Anstand

Anstand, der ; Substantiv; maskulin =  1. gute Sitte 2. Ansitz für Jäger 

 

Gibt es heute noch Anstand? Ja, bei uns hier im Wald gibt es so einige. Womit zumindest die zweite Wortbedeutung auch weiterhin Chancen auf Fortbestand hat. Dies trifft leider nicht auf die erste Bedeutung des Wortes zu. Der Anstand scheint in der heutigen Gesellschaft immer mehr zu verschwinden.  

Man muss sich nicht einmal hinausbewegen. Es reicht ein Blick ins Internet. Es genügt ein Fernsehabend mit Talkshows, oder sogar ein Blick in die Leserbrief-Kommentarspalten der Zeitungen. Es wird gepöbelt, beleidigt, gedroht und verächtlich gemacht, was nicht derselben Meinung ist, wie man selbst. Hierzu braucht es mittlerweile nicht einmal mehr des großen politischen Themas. Ein Bericht über ein Fest im Park reicht aus, um spätestens nach dem dritten Kommentar dem Schreiber Dummheit zu attestieren. Wobei Dummheit noch nett wäre. Die Wogen der Empörung steigen hoch und höher. Aus dem Bericht über das Fest landet man dann zwangsläufig relativ schnell an dem Punkt, an dem Äpfel mit Birnen verglichen werden (was man übrigens durchaus machen kann), und von dort ist es nur noch ein paar Zeilen entfernt, bis Begriffe wie “Gutmensch”, “Linksgrün” oder “Nazi” fallen. Auch werden gerne inflationär Begriffe verwendet, die irgendwo gelesen und für lustig befunden wurden. Gerade jetzt, wenn ich das hier schreibe fällt ziemlich häufig der Begriff “Dummel”. Ist lustig … wenn man es mal liest (vor allem im ursprünglichen Zusammenhang), wird albern und nervt, wenn es jedem untergejubelt wird, der irgendeine andere Meinung vertritt. Auch die Sache mit dem Reissack, der gerade in China umfällt, war mal lustig. Erklärend muss man natürlich wissen, dass dies sehr selten passiert, da Reissäcke nicht stehend, sondern liegend gelagert werden. Hier füge ich mir einmal selbst Schmerzen zu, indem ich anmerke “Niemand mag Klugscheißer”.  

Eine Supermarktkette dieser Gegend hier, hat sich gerade öffentlichkeitswirksam zu der zunehmenden Verrohung Ihrer Kunden geäußert. Es wurde bemängelt, dass Kassiererinnen angeschrien oder sogar bedroht werden, nur weil es etwas länger dauert. Sogar mit Hausverbot wurde gedroht. Was passierte? Diese Veröffentlichung ging viral, landete sogar in den Fernsehsendungen der Vorabende, wurde in Zeitungen zitiert und (gefühlt) von jedem zur Kenntnis genommen. Was aber viel verwunderlicher war, war die Tatsache, dass diese Ansage des Händlers einen enormen Zuspruch fand. Alle standen auf der Seite des Händlers beziehungsweise des Verkaufspersonals. Wenn das aber so ist, warum werden dann immer noch Verkäufer*innen dumm angemacht? Vor Allem, von wem? Wenn doch alle diese Unarten verurteilen. Gibt es einen Unterschied, zum Auftreten in der Öffentlichkeit, und im Netz? Interessanterweise scheint es so zu sein, dass die Internet-Rambos in der freien Wildbahn oft ganz nette Zeitgenossen sind. Andersherum scheint es genug Menschen zu geben, die sich draußen benehmen, als gehöre Ihnen die Welt, im Netz aber immer auf der “guten Seite” stehen wollen. Dort wird betont, natürlich aus Umweltgründen nur mit dem Fahrrad zu fahren, selbstverständlich nur Fleisch aus artgerechter Haltung vom Bio-Bauern aus der Region zu essen (wenn überhaupt etwas anderes als Grünfutter auf den Teller kommt) und selbstverständlich spendet man auch für diverse humanistische Organisationen (oder würde spenden, wenn das Geld auch sicher da ankommen würde, wo es sollte). Wenn das so ist, muss die Frage erlaubt sein, warum finde ich in der Stadt kaum einen Parkplatz? Warum sind die Truhen mit dem “Billigfleisch” immer deutlich leerer, als die mit den Bio-Sachen, obwohl der Händler mehr vom ersteren in die Truhen packt? Und warum bekommt eine alte Kirche innerhalb von ein paar Stunden mehr Spendenzusagen, als die Spendenhotline beim Tsunami in Sri Lanka oder beim Erdbeben in Costa Rica? Diese Fragen würden bei Facebook wieder eine Diskussion auslösen (was völlig OK wäre) und man würde mich wahlweise als Nazi oder als Gutmensch beschimpfen. Kommt halt auf den eigenen Standpunkt an. 

Wenn alle wirklich das tun würden, womit sie sich brüsten, ginge es allen bedeutend besser, als wenn alle nur behaupten, es zu tun. Wenn alle sachlich diskutieren würden, ohne sich zu beleidigen, wenn alle auch offen für andere Meinungen wären, und wenn sich endlich wieder durchsetzen würde, dass der mit dem besten Argument Gehör findet, und nicht der mit dem lautesten Organ, würden wir sicherlich in eine bessere und angenehmere Zukunft steuern, find ich. 


01.07.2019